Potsdam, 18. Mai 1764 … Je länger man in dieser Welt lebt, desto klarer sieht man ein, daß die Wahrheit wenig dazu geeignet ist, das Erbteil der Menschen zu werden. Die Hüllen, die die Natur den Dingen gibt, die engen Grenzen unsers Geistes, die Vorliebe für das Wunderbare, von der jeder Mensch seinen kleinen Teil hat, das Streben nach Nutzen und der Betrug, die sich beide der albernsten Irrtümer bedienen, um Glauben für sich zu erwecken – mit einem Worte, alles weist uns darauf hin, daß wir in dem Reiche der Einbildungen leben und abgesehen von einigen beweisbaren geometrischen Sätzen nicht imstande sind, die Wahrheit zu erreichen.
Alles in allem scheint es, daß wir mehr deshalb auf die Welt gesetzt sind, um sie zu genießen, als um sie zu kennen. Macht unsre Neugier einmal unsre Vernunft verwegen genug, um sich auf die Finsternisse der Metaphysik einzulassen, so verirren wir uns in dieser Dunkelheit, da wir keinen Stab, auf den wir uns stützen können, und keine Fackel haben, die uns Licht brächte.
Alle diese Erwägungen, gnädige Frau, sind für unsre Eigenliebe beschämend genug. Das würde jedoch nicht viel bedeuten, wenn wir bei dieser Empfindung stehn blieben und uns nicht dadurch Gefühle der Nachsicht für die andern Blinden einflößen ließen, die sich auf anderen Wegen verirren, als die sind, die der Zufall uns angewiesen hat.
Wer aufrichtig die Wahrheit sucht, wird stets seine Brüder unterstützen wollen. Nur der hochmütige Parteigeist und das persönliche Interesse, das sich gern unter dem Namen der Sache Gottes verbirgt, bewaffnet die Hände der Verfolger mit dem Schwerte, das sie von dem Altare nehmen. Deshalb bin ich mißtrauisch gegen den Feuereifer der Frommen und möchte ihnen gern sagen: „Du ärgerst dich und beschimpfest deinen Nächsten; also hast du Unrecht.“
Und doch werden wir, gnädige Frau, die Leute nicht bessern; die Menschen bleiben, wie sie immer gewesen sind. Der Wiener Hof wird stets ehrgeizig, die Inquisition verfolgungssüchtig, Seine allerchristlichste Majestät ein Weiberknecht, die deutschen Bischöfe Trunkenbolde und ich Ihr eifrigster Anbeter sein…
aus: Der König (S. 362 f.)
Friedrich der Große in seinen Briefen und Erlassen, sowie in zeitgenössischen Briefen, Berichten und Anekdoten
erschienen 1912 zum 200. Geburtstag des großen Preußenkönigs
mit biographischen Verbindungen von Gustav Mendelssohn Bartholdy
Wilhelm Langewiesche-Brandt / Ebenhausen bei München
Quelle im Netz:
Fr. Original: https://friedrich.uni-trier.de/fr/oeuvres/18/276/
Dt. Übersetzung: https://friedrich.uni-trier.de/de/hein/2/140/